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Leseproben • Prosa
aus: Reise zu meinem Großvater
D e r O r t - d i e Z e u g i n
Ich kenne ihn nicht. Ich kann ihn gar nicht kennen. Und er kennt mich nicht, kann mich nicht kennen. Dennoch: Einiges weiß ich von ihm. Er weiß von mir nichts, kann nichts wissen von mir.
So ist mir der Name des Ortes bekannt, wo er jetzt ist. Wo er bleiben wird. Für immer. Nach menschlichem Ermessen.
Ich habe den Namen dieses Ortes niemals gelesen. Gesprochen kenne ich ihn, ausgesprochen von ihr, seiner Frau, seiner Witwe, meiner Großmutter eben.
Selten sprach sie ihn aus. Und doch prägte er sich mir ein. Ich spürte, wie wichtig er ihr war und wie gegenwärtig, auch und gerade, wenn sie ihn nicht sprach. Es war das einzige, was sie noch von ihm hatte. Sie kannte ihn von einem Schein, einer amtlichen Mitteilung, aus der zu erfahren war, auf welchem Friedhof er bestattet lag. Hin und wieder entnahm sie das Blatt dem oberen Kasten ihrer Kommode. Sie entfaltete es scheinbar ohne jede Erregung und las laut den Namen des Dorfes, in dessen Gemarkung sich der Friedhof befindet. Dieses Schriftstück gab sie mir nie in die Hand, so daß ich den Namen des Ortes nie lesen konnte. Ich kannte ihn daher - wie schon gesagt - nur gesprochen, ausgesprochen in der unverwechselbaren erzgebirgischen Mundart meiner Großmutter - den Namen eines Dorfes in der Champagne.
Unverlierbar ging er mir ein. Obwohl ich ihn so selten nur hörte, denn meine Großmutter entnahm das Blatt in meiner Gegenwart nicht oft. Dennoch spürte ich als Knabe, wie wichtig dieser Name meiner Großmutter war. Also prägt er sich mir ein ... - mit ihm ihr Wunsch, irgendwanneinmal möge jemand aus unserer Familie in der Lage sein, das Grab meines Großvaters aufzusuchen.
Mit dem Tod meiner Großmutter blieb das amtliche Schreiben verschwunden. Sechsundzwanzig Jahre später fielen die Grenzen, die eine Reise dorthin unmöglich machten. Nach drei weiteren Jahren kam ich zum ersten Mal nach Frankreich. Und ich tat, was ich mir seit jeher vorgenommen hatte: Mein erster Weg in diesem Land sollte mich zu meinem Großvater führen.
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